Karriere

Tight Loose Tight: Partizipativ und verbindlich …

… Wie weibliche Führungskräfte vom norwegischen Führungsmodell Tight Loose Tight profitieren

Von Susanne Ringen 

“Ab jetzt müssen Sie ihre Kollegen und Kolleginnen siezen”, sagte er. “Sie sind jetzt Führungskraft”. Ich argumentierte, dass ich doch das Team schon lange kannte und das doch komisch sei. Aber nein: kein Pardon. So ist das, wenn man ins Management möchte.

Mit dem Team vereinbarte ich, das “Sie” während der Arbeit, und wenn wir nach Feierabend was trinken gingen, duzten wir uns wieder.

Geschehen Anfang der 90er. Ich war gerade 20, arbeitete in einem Steakhaus und der Chef bot mir die Einarbeitung im Management an. Ich hatte mich wortwörtlich von der Tellerwäscherin hochgearbeitet.

Das Sie-Du Thema war jedoch nicht die einzige Diskrepanz, die wir hatten. Nach wenigen Monaten kündigte ich.

Ich fand schon damals dieses Chefgehabe albern und unnötig.

Mir war Zusammenarbeit, Austausch, Miteinander etwas schaffen und voneinander lernen wichtiger.

Vielleicht stieß ich deswegen später auch als IT-Projektleiterin an meine Grenzen, da wir damals noch im klassischen “Wasserfall”-Modus arbeiteten: Ich als Projektleiterin hatte den Plan und versuchte die Arbeit der Mitarbeitenden in eben diesen zu quetschen. Es war anstrengend. Eine ganze andere Erfahrung machte ich hingegen als Personalleiterin, wenn ich mit meinem kleinen Team vor dem Trello-Board saß und wir gemeinsam über Aufgaben und aktuelle Herausforderungen sprachen. Oder später als Interims-Personalleiterin, als ich mit dem Team mit Kanban experimentierte: Erste Ausflüge in die agile Arbeitswelt und es machte immer mehr Spaß.

Deswegen war ich persönlich so begeistert, als ich Tight Loose Tight entdeckte.

Das skandinavische Führungsmodell von Rune Ulvnes ist eine innovative Antwort auf die Fragen der modernen Arbeits- und Führungswelt. Besonders für weibliche Führungskräfte wie mich erweist sich dieses Modell als vorteilhaft, da es sowohl klare Strukturen als auch Flexibilität miteinander verbindet und somit typisch weibliche Führungsstärken optimal integriert.

Gerne würde ich das heute meinem damaligen Chef erklären.

Führungsansätze, die eher Frauen zugeschrieben werden

Schauen wir uns verschiedene Führungsstile an, zeigt sich, dass Frauen tendenziell weniger zu einem streng hierarchischen Stil neigen. Sie setzen eher auf andere Formen der Führung:

●      Transformationaler Führungsstil: Frauen neigen dazu, ihre Teams durch Inspiration, Sinnhaftigkeit und individuelle Förderung zu motivieren.

●      Partizipative Führung: Sie binden ihre Mitarbeiter:innen aktiv in Entscheidungsprozesse ein und fördern Innovation durch gemeinsame Ideenfindung.

● Emotionale Intelligenz und Empathie: Viele weibliche Führungskräfte zeichnen sich durch eine hohe emotionale Intelligenz aus, was zu einem besseren Verständnis und einer stärkeren Mitarbeiterbindung führt.

● Coaching-Ansatz: Sie agieren als Mentorinnen und setzen auf die langfristige Entwicklung und Stärkung ihrer Teams.

● Kollaborative Führung: Statt auf Konkurrenz setzen sie auf Netzwerke und Synergien, um Teamarbeit und Zusammenhalt zu fördern.

● Nachhaltigkeit und werteorientierte Führung: Sie achten auf ethisches Handeln und langfristige Auswirkungen ihrer Entscheidungen.

● Krisenmanagement durch Kommunikation: Frauen setzen oft auf Offenheit, Dialog und reflektierte Entscheidungen in herausfordernden Situationen statt auf harte Ansagen.

Diese Führungsansätze werden natürlich auch von Männern genutzt, insbesondere, wenn diese im Kontext von eher flachen Hierarchien, selbstorganisierten Teams, Agilität oder in Organisationsmodellen wie der Holokratie arbeiten.

Anwendung und Aufbau von Tight Loose Tight

Immer dann, wenn wir Modelle nutzen, müssen wir uns bewusst sein, in welchem Kontext sie funktionieren und in welchem nicht. Ansonsten landen wir bei dem Spruch „Wer nur einen Hammer kennt, für den sieht alles wie ein Nagel aus.“ Stattdessen müssen wir anhand des Problemkontextes entscheiden, welches Modell uns am ehesten weiterhilft.

In einem dynamischen und komplexen Arbeitsumfeld mit Problemen, für die es keine eindeutige sichere Lösung gibt, sind agile Ansätze wie Tight Loose Tight hilfreich.

In Kontexten, in denen es um Effizienz, Qualitätssicherung oder klare Prozesse geht, sieht es anders aus. Würden wir hier Agilität als Modell nutzen, würden wir, um beim obigen Sprichwort zu bleiben, versuchen, die Schraube mit dem Hammer ins Holz zu schlagen.

Stehen wir also vor Problemen, deren Lösung wir noch nicht kennen, ist Tight Loose Tight ideal.

Das Modell besteht aus drei zentralen Elementen:

Tight Loose Tight: Partizipativ und verbindlich

Tight (Enge Abstimmung):

In der ersten Phase von „Tight Loose Tight“ wird das zu lösende Problem durch die Führungskraft klar beschrieben, um dann gemeinsam mit dem Team analysiert zu werden. Ziel ist es, es möglichst umfassend zu verstehen, alle relevanten Faktoren zu identifizieren, um dann einen geeigneten Rahmen für die Lösungsfindung festzustecken. Hierzu zählen Stakeholderinteressen, Budget und zeitliche Komponenten.

Das Team entwickelt gemeinsam mit der Führungskraft Hypothesen, die wie das Problem möglicherweise gelöst werden kann. Hier braucht es viele Ideen, daher ist es wichtig, dass sich die Führungskraft zurücknehmen kann und nicht eigene Interessen in den Vordergrund bringt. Gerade das scheint Frauen in der Anwendung leichter zu fallen. Sie scheinen sich weniger mit fertigen Lösungen präsentieren zu müssen, um Glaubwürdigkeit oder Dominanz auszustrahlen. Die innere Haltung “Gemeinsam kommen wir zu einer Lösung” ist hier wichtig.

Mit der Entscheidung, welche Hypothesen in der nachfolgenden Loose-Phase getestet werden und wie lange diese dauern soll, ist die Abstimmung im Tight beendet.

Loose (Freiraum für kreative Problemlösung):

In der Loose-Phase erhalten die Mitarbeitenden Autonomie, um die entwickelten Hypothesen zu testen und kreativ an Lösungen zu arbeiten. Auch sind sie nicht an vorgefertigte Rollen oder Prozesse gebunden, sondern einigen sich selber auf das, was es braucht. Sie haben die Freiheit, neue Ansätze zu verfolgen, Experimente durchzuführen und unkonventionelle Methoden zu erproben. Diese Phase fördert Eigenverantwortung und Flexibilität, da das Team selbst entscheiden kann, wie es vorgeht, und auf neue Erkenntnisse schnell reagieren kann. Fehler werden als Lernchancen betrachtet, was die Innovationskraft des Teams erheblich steigert.

Wichtig ist Offenheit in der Kommunikation, Austausch und die Fähigkeit sich im Team gut zu organisieren. Hier scheinen Frauen auch die Nase etwas vorn zu haben.

Tight (Reflexion und strategische Anpassung):

Die zweite Tight-Abstimmung dient der Reflexion über die bisherigen Erkenntnisse. Gemeinsam mit der Führungskraft überprüft das Team, welche Hypothesen sich bewährt haben und welche angepasst werden müssen. Möglicherweise muss auch das Ziel noch einmal angepasst werden. Diese Phase der Reflexion und Anpassung stellt sicher, dass die Lösungsansätze kontinuierlich verbessert werden und das Team auf dem richtigen Kurs bleibt. Gleichzeitig dient die Abstimmung der inneren Reflexion über die Art und Weise der Zusammenarbeit. Mögliche Konflikte werden angesprochen und gelöst. “Kein Platz dem Ego” kann hier ein Motto sein – denn wer hier an seinen eigenen Hypothesen klammern möchte, obwohl diese sich als nicht tragfähig erwiesen haben, wird den weiteren Innovationsfluss hemmen.

Tight Loose Tight: Vorteile für weibliche Führungskräfte

Sowohl in den Tight-Abstimmungen als auch in der Loose-Phase ist eine hierarchische Haltung hinderlich. Die Führungskraft muss sich zurücknehmen, anderen Ideen Raum lassen, nicht selber Entscheidungen treffen, aber den Entscheidungsprozess leiten. Es geht um Kollaboration, um sich gemeinsam dem Lösungsweg zu nähern. Wer hier nicht loslassen kann, rutscht schnell ins Mikromanagement und in das Feld der Ansagen. Frauen bringen hier ihre natürliche kooperativen Stärken mit, die sie gezielt ausspielen können.

Das bedeutet nicht, dass Tight Loose Tight nicht für Männer geeignet ist. Im Gegenteil: es wird ihren Führungsstil bereichern. Doch in der Beobachtung springen Frauen schneller auf Tight Loose Tight an, da sie sich in ihren natürlichen Stärken wiederfinden.

Als ich Tight Loose Tight noch nicht kannte, nutzte ich in meiner Rolle als Interims-Personalleiterin eines Softwareunternehmens ein anderes agiles Modell. In unserem Büro hing ein großes Kanban-Board, vor dem wir jeden Morgen standen, um die anstehenden Aufgaben, Hürden und Vorgehensweisen zu besprechen. So waren wir gemeinsam auf dem gleichen Stand, konnten uns im Notfall schnell vertreten und sahen, wo eine von uns Unterstützung brauchte. Als Leiterin eines reinen Frauenteams hat dies wunderbar geklappt.

Fazit

Das Tight-Loose-Tight-Führungsmodell von Rune Ulvnes passt hervorragend zu Ansätzen weiblicher Führungskräfte, da es auf der einen Seite eine klare Struktur anbietet, auf der anderen Seite aber auch Kollaboration und Vertrauen fördert. Durch diese Kombination können Frauen ihre empathischen, kooperativen und motivierenden Fähigkeiten optimal in der modernen Arbeitswelt einsetzen.

Hätte ich damals Tight Loose Tight gekannt, hätte ich im Steakhaus klar unterschieden:

Wie könnt ihr euch am Grill so organisieren, dass die Bestellungen pro Tisch gleichzeitig rausgehen? (komplexe Herausforderung – wir brauchen Ideen)

Aber: Alle Salatschüsseln an der Salatbar müssen aufgefüllt werden, wenn sie weniger als halbvoll sind. (klare Qualität – wir brauchen einen Prozess).

Heute könnte ich meinem damaligen Chef die Stirn bieten.

Zur Expertin für Partizipativ und verbindlich

Susanne Ringen ist Beraterin für Agile Führung und Organisationsdesign. Die ehemalige IT-Projektmanagerin und Personalleiterin hat das norwegische Führungsprinzip „Tight Loose Tight“ erstmalig im deutschsprachigen Raum eingeführt. Die Gründerin der ICH & WIR Academy bildet Führungskräfte nach norwegischem Vorbild aus. Mit dem Erfinder von „Tight Loose Tight“, Rune Ulvnes von CoWork, arbeitet sie eng zusammen und konzipiert gemeinsam mit ihm Ausbildungsformate. Sie lebt und arbeitet in Deutschland und Norwegen. Nähere Informationen finden Sie unter: www.susanne-ringen.com

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