Den „Zeitgeist“ für Change- und Transformationsprojekte nutzen
Von Dr. Georg Kraus
Aktuell können Unternehmen auch Changeprojekte, die mit einem Personalabbau verbunden sind, recht widerstandslos durchführen – denn gesellschaftlich besteht weitgehend ein Konsens: In der Wirtschaft sowie in den Unternehmen ist der Changebedarf groß.
Aktuell stehen viele Unternehmen vor der Herausforderung, in ihrer Organisation tiefgreifende Change- oder gar Transformationsprozesse zu vollziehen, um auch künftig wettbewerbsfähig zu sein. Entsprechend häufig registriert man in ihnen zurzeit folgende Situation: In den oberen Führungsetagen herrscht, nachdem die nötigen Grundentscheidungen getroffen wurden, eine starke Aufbruchsstimmung. Zudem verbreiten sie zumindest eine große Zuversicht „Wir schaffen das, wenn …“. Auf den Ebenen darunter hingegen liegen die Nerven blank. Hier dominiert die Zukunftsangst und entsprechend negativ ist die Stimmung im Betrieb.
Die Stimmung ist meist umso depressiver oder gar aggressiver,
- je tiefgreifender aus Sicht der Mitarbeiter die geplanten Einschnitte sind, und
- je weniger die Mitarbeiter über die Gründe und Ziele sowie den Ablauf des anstehenden Veränderungsprozesses informiert sind und folglich einschätzen können „Was kommt da auf uns …“ bzw. „… auf mich zu“.
Diese Faktoren hängen zusammen, denn je weniger Infos die Mitarbeiter über die geplanten Veränderungen und somit ihr künftiges Schicksal haben, umso stärker brodelt die Gerüchteküche darüber, was „die da oben“ vorhaben. Und umso größer ist auch ihre Verunsicherung, was zu überflüssigen Widerständen führt.
Dr. Georg Kraus ist Inhaber der Unternehmensberatung Kraus & Partner, Bruchsal (www.kraus-und-partner.de). Er ist Autor mehrerer Change und Projektmanagement-Bücher. Er hat eine Professur an der Technischen Universität Clausthal und ist Lehrbeauftragter an der Universität Karlsruhe und der IAE in Aix-en-provence.
Kernaufgaben der Change-Manager
Deshalb lautet eine Voraussetzung für das erfolgreiche Managen von Change- und Transformationsprozessen: Die mittel- und unmittelbar betroffenen Mitarbeiter (aber auch Kunden und Lieferanten) werden so weit und früh wie möglich und nötig in den Prozess integriert. Dabei muss die Aussage „so weit und früh wie möglich und nötig“ abhängig von der Situation stets neu interpretiert werden, weshalb sich der bei einem Changeprojekt praktizierte Lösungsweg – selbst, wenn er erfolgreich war – nicht eins zu eins auf ein anderes Projekt übertragen lässt.
Dennoch lassen sich für jedes Changeprojekt Kernaufgaben definieren, die seitens des Managements im Prozessverlauf Prozesses zu erfüllen sind. Dem Havard-Professor John P. Kotter zufolge handelt es sich dabei um folgende Aufgaben:
- „Create a sense of urgency“: Die Unternehmensführung muss allen Betroffenen und Beteiligten die Notwendigkeit der Veränderung aufzeigen und bewusst machen.
- „Create a coalition“: Sie muss sich Verbündete suchen, die sie aktiv unterstützen.
- „Develop a clear vision“: Sie muss eine Vision haben, wohin die Reise geht, und eine Strategie, wie die definierten Ziele erreicht werden sollen.
- „Share the vision“: Die Veränderungsvision muss den Betroffenen und Beteiligten professionell kommuniziert werden.
- „Empower people to clear obstacles“: Die Mitarbeiter müssen mit den nötigen Befugnissen und Kompetenzen ausgestattet werden, um im Prozess auftretende Hindernisse und Widerstände zu beseitigen.
- „Secure short-term wins“: Kurzfristige (Teil-)Erfolge müssen gezielt geplant und kommuniziert werden, damit bei allen Beteiligten das Vertrauen wächst „Wir können das große Ziel erreichen“.
- „Consolidate and keep moving“: Das Management muss das Erreichte sichern und den Change-Prozess gezielt vorantreiben sowie Change-Energie hochhalten.
- „Anchor the change“: Die erreichten Veränderungen müssen in der Organisation verankert und in die Unternehmenskultur integriert werden.
Ein reales Fallbeispiel
Die obige Beschreibung des Vorgehens bleibt notwendigerweise recht vage, da sie von der Situation im einzelnen Unternehmen abstrahiert und diese sowohl branchen-, als auch organisationsabhängig meist sehr verschieden ist. Deshalb sei die praktische Umsetzung anhand eines Changeprojekts beschrieben, das die Unternehmensberatung Kraus & Partner im Produktionsbereich eines Industrieunternehmens begleitete.
Ziel dieses Projekts war es, in der Fertigung ein neues Produktionsverfahren mit einem höheren Automatisierungsgrad einzuführen, um auch künftig wettbewerbsfähig zu sein. Die negative Konsequenz aus Sicht der Belegschaft: Hierdurch wurden 30 Prozent der Mitarbeiter überflüssig. Trotzdem lautete das anspruchsvolle Ziel des Vorstands:
- Das Projekt soll von den Mitarbeitern mitgetragen werden.
- Das Engagement der Mitarbeiter soll im Verlauf des Projekts nicht sinken.
- Die verbleibenden Mitarbeiter sollen trotz des Personalabbaus für sich eine Perspektive im Unternehmen sehen. Und:
- Die zu kündigenden Mitarbeiter sollen beim Verarbeiten der Kündigung und beim Entwickeln einer neuen beruflichen Perspektive unterstützt werden – auch um zu vermeiden, dass die Identifikation der verbleibenden Mitarbeiter mit ihrem Arbeitgeber sinkt und das Image des Unternehmens (als Arbeitgeber) Schaden erleidet.
Ein detailliertes „Drehbuch“ verfasst
Um diese Zielvorgaben zu erfüllen, wurde zunächst ein detailliertes Drehbuch für den Changeprozess entwickelt. Dieses enthielt auch ein Kommunikationskonzept, in dem präzis definiert war, wann wer welche Informationen durch wen über den geplanten Veränderungsprozess erhält. Um ein Brodeln der Gerüchteküche und unnötige Unruhe in der Organisation zu vermeiden, wurde unter anderem entschieden: Es soll so früh wie möglich publik gemacht werden, welchen Mitarbeitern gekündigt wird. Hierdurch wollte das Unternehmen
- den verbleibenden Mitarbeitern die Gewissheit vermitteln „Euer Job ist sicher“ und
- den Mitarbeitern, von denen eine Trennung erfolgen sollte, die Möglichkeit bieten, sich frühzeitig nach einer neuen beruflichen Perspektive umzuschauen.
Dem Unternehmen war bewusst, dass aus dem Changeprozess besondere Anforderungen an die Führungskräfte resultieren, Deshalb wurde zudem beschlossen, diese bezogen auf die Themenfelder „Führen in Zeiten von Personalabbau“ und „Führen von Kündigungs-/Trennungsgesprächen“ zu schulen. Außerdem entschied die Unternehmensleitung – da mit jedem Changeprozess außer einer höheren Arbeitsbelastung auch eine höhere psychische Belastung verbunden ist – jeder Führungskraft einen externen Coach zur Seite zu stellen. Ihn konnten die Führungskräfte jederzeit kontaktieren. Hinter dieser Entscheidung stand auch die Erkenntnis, dass sich größere Changeprozesse nur bedingt zentral steuern lassen. Deshalb benötigen die lokalen Einheiten eine fachliche und mentale Unterstützung.
Ein Frühwarnsystem installiert
Eine große Bedeutung wurde auch der Frage beigemessen: Wie können wir die Qualität des Changeprozesses messen? Welche Informationen sind notwendig, um es frühzeitig zu erkennen, wenn ein Interventionsbedarf entsteht? Entschieden wurde, jeden Monat eine (partielle) Mitarbeiterbefragung – differenziert nach Hierarchieebenen – durchzuführen, um zu ermitteln, ob der Prozess wie gewünscht verläuft oder ein zusätzlicher Handlungsbedarf besteht.
Erfasst wurden hierbei die vier Dimensionen „Infofluss“, „Dialog“, „Engagement“ und „Handlungsunterstützung“. Hierzu entschied sich das Unternehmen aus folgenden Gründen: Damit die Mitarbeiter ihren Beitrag zur gewünschten Veränderung leisten können, benötigen sie die hierfür relevanten Informationen. Außerdem muss ein Dialog zwischen Beteiligten und Betroffenen erfolgen, damit sich die Einzelinitiativen verzahnen und keine Insellösungen entstehen.
Wichtig war es dem Unternehmen auch, über eine Art Seismograph zu verfügen, der anzeigt, inwieweit die Mitarbeiter noch hinter dem Projekt stehen. Deshalb wurden diese auch hinsichtlich ihres Engagements befragt. Der Grund hierfür: In Veränderungsprozessen kommt es zuweilen vor, dass im Projektverlauf die Motivation von Mitarbeitern bzw. Mitarbeitergruppen, die dem Prozess an sich durchaus positiv gegenüberstehen, plötzlich sinkt. Zum Beispiel, weil sie allmählich merken, was die geplante Veränderung für sie bedeutet. Oder weil unvorhergesehene Probleme auftauchen. Deshalb sollte eine Art Frühwarnsystem registrieren, ob bei bestimmten Mitarbeitergruppen die Gefahr besteht, dass sie aus dem Prozess aussteigen.
Die gekündigten Mitarbeiter aktiv unterstützt
Der Gefahr, dass die gekündigten Mitarbeiter den Prozess stören, wurde durch ein „Exit-Programm“ entgegengewirkt. In ihm war geregelt, wie der Kündigungs- und Trennungsprozess gestaltet werden sollte; außerdem, welche Unterstützung die Gekündigten beim Verarbeiten der Kündigung sowie Entwickeln einer neuen Perspektive erhalten – angefangen bei einem individuellen (Krisen-)Coaching bis hin zur aktiven Unterstützung beim Entwickeln einer neuen beruflichen Perspektive durch Outplacement-Berater. Deshalb merkten die Mitarbeiter nach anfänglichem Frust rasch: Das Unternehmen fühlt sich uns – trotz Kündigung – weiterhin verpflichtet. Dies honorierten sie. Das zeigt sich zum Beispiel darin, dass der Krankenstand nach dem Aussprechen der Kündigungen nicht stieg. Auch die Zahl der Arbeitsgerichtsprozesse lag weit unter dem bei solchen Projekten üblichen Wert.
Durch das akribische Planen des Changeprozesses sowie die intensive Berücksichtigung des Faktors Mensch gelang es dem Unternehmen, das Projekt wie geplant abzuschließen. Selbst der Personalabbau verlief ohne Störungen – sei es durch Streiks oder negative Presseberichte. Das zeigt: Auch Changeprojekte, die massive Auswirkungen auf die Arbeitsbeziehungen und -inhalte sowie die Arbeitssituation der Mitarbeiter haben, können weitgehend reibungslos verlaufen.
Change- und Transformationsprojekte jetzt starten
Dies gilt insbesondere in der aktuellen Situation, in der gesellschaftlich weitgehend ein Konsens besteht:
- Die Rahmenbedingungen des wirtschaftlichen bzw. unternehmerischen Handeln haben sich (weltweit) fundamental gewandelt und werden sich auch weiterhin massiv verändern. Als Stichwort seien hier nur die Begriffe KI und neue Weltordnung genannt. Und:
- In sehr vielen Unternehmen – nahezu branchenübergreifend – existiert ein hoher Changebedarf, wenn sie auch künftig erfolgreich sein möchten.
Entsprechend „leicht“ können Unternehmen aktuell ihren Mitarbeitern und sonstigen Stakeholdern vermitteln „Wir müssen aktiv werden, damit wir …“ – und zwar ohne, dass sogleich (firmenintern und -extern) das Management am Pranger steht. Entsprechend problem- bzw. widerstandslos lassen sich zurzeit Change- und Transformationsprojekte in Unternehmen initiieren und realisieren – unter folgenden drei Bedingungen: Das Unternehmen plant das Projekt professionell, es spielt (soweit möglich) mit offenen Karten und integriert die Mitarbeiter (soweit möglich) in den Prozess.
kein Kommentar