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Ampelbündnis = Aufbruch? Was bringt die Familienpolitik 2022?

Von Forschungszentrum Familienbewusste Personalpolitik 

Vor fast zwei Monaten kam Grünen-Politikerin Anne Spiegel als neue Bundesfamilienministerin ins Amt. Sie ist jung, hat aber bereits Regierungserfahrung und geht sehr ambitioniert zu Werke.

Aber schafft der Koalitionsvertrag der Ampel die richtigen Grundlagen, wenn es darum geht, in pandemischen Zeiten die kleinsten, aber wichtigsten gesellschaftlichen Einheiten, die Familien, zu stärken und die Weichen für mehr Zusammenhalt zu stellen? Und setzt er nach vielen angestoßenen Neuerungen der letzten Jahre auch weiterhin die richtigen Akzente für die vielfältigen Familien- und Lebensmodelle?

Dazu hat das Forschungszentrum Familienbewusste Personalpolitik 5 Fragen an Professorin Irene Gerlach, Leiterin des Forschungszentrums Familienbewusste Personalpolitik (FFP) und Mitglied des wissenschaftlichen Beirats für Familienfragen des Bundesfamilienministeriums (BMFSFJ) gestellt.

Prof. Dr. Irene Gerlach, Professorin für Politikwissenschaft, insbesondere Sozialpolitik. Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats für Familienfragen beim Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ). Foto: Nina Weymann-Schulz

Frau Gerlach, was sind für Sie die guten familienpolitischen Ankündigungen des Koalitionsvertrages?

„Das Kapitel zur Familienpolitik im Koalitionsvertrag trägt den Titel ‚Chancen für Kinder, starke Familien und beste Bildung ein Leben lang‘. Das deutet auf eine systematische Verbindung von Familien- und Bildungspolitik hin, die diese seit der Jahrtausendwende zunehmend gekennzeichnet hat und die ausdrücklich zu begrüßen ist. Gute Bildung von Anfang an, Unterstützung bei Übergängen im Schulsystem und von diesem in das Erwerbssystem sowie die Ermöglichung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf bieten den besten Schutz vor Kinder- und Familienarmut.
Eine grundlegende Reform des BAföG soll zu einer elternunabhängigen Förderung führen, auch dies ist zu begrüßen.
Besonders interessant klingt im neuen Koalitionsvertrag das Ziel, eine engere, zielgenauere und verbindliche Kooperation aller Ebenen bei der Modernisierung des Betreuungs- und Bildungssystems anzustreben, aufgeführt als Kooperationsgebot. Die örtliche Umsetzungskraft der Schulträger, die Kultushoheit der Länder und das unterstützende Potenzial des Bundes soll ‚zu neuer Stärke vereint‘ werden und es soll ‚eine neue Kultur in der Bildungszusammenarbeit‘ begründet werden. Dies ist angesichts der Beharrungskräfte im Föderalismus ambitioniert, aber mit Rückblick auf Reibungs- und Ressourcenverluste beim Einsatz von Bundesmitteln, zum Beispiel beim Ausbau des Betreuungsangebotes oder der Ganztagsschule, unverzichtbar.“

Werden diese Vorhaben den Herausforderungen, vor denen Familien heute stehen, gerecht?

„Die Ankündigung, die Partnermonate beim Basis-Elterngeld um einen Monat zu erweitern, bringt die Familien ein Stück weiter auf dem Weg zu egalitäreren Arbeitsteilungsmustern. Die versprochene Modernisierung des Elterngeldanspruchs für Selbstständige ist mit Rückblick auf den bisherigen Bürokratiedschungel, den diese bei der Beantragung vor sich hatten, ausdrücklich zu begrüßen, ebenso wie die Digitalisierung und vereinfachte Beantragung von Familienleistungen. Allerdings geht aus dem Koalitionsvertrag nicht hervor, was unter ebendieser ‚Modernisierung‘ zu verstehen sei und wie mit den erhöhten Missbrauchswahrscheinlichkeiten bei digitalisierter beziehungsweise automatisierter Beantragung umgegangen werden soll.
Auch die Ankündigung der Bezuschussung Haushaltsnaher Dienstleistungen für Familien und Pflegende ist ausdrücklich zu begrüßen. Ihr ist ein über 30-jähriges Hin und Her inklusive ideologischer ‚Verblendungen‘ vorausgegangen – wie die Etikettierung als ‚Dienstmädchenparagraph‘ – obwohl doch für die Familienpolitik hätte offensichtlich sein müssen, dass neben dem Ausbau des Kinderbetreuungsangebotes die Unterstützung bei der Hausarbeit ein funktionierendes weiteres Instrument bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf hätte sein können.

Die Ausweitung des ‚kleinen Sorgerechts‘ für soziale Eltern, das auf bis zu zwei weitere Erwachsene zu übertragen wäre, entspricht einer Anpassung des Familienrechts an die soziale Realität, bringt aber für die Regelung im Konfliktfall große Herausforderungen mit sich. Ähnliches gilt für die Einführung von Verantwortungsgemeinschaften, die jenseits von Liebesbeziehungen oder der Ehe zwei oder mehr volljährigen Personen ermöglichen soll, rechtlich füreinander Verantwortung zu übernehmen.
Die Berücksichtigung der umgangs- und betreuungsbedingten Mehrbelastungen bei gemeinsamer Erziehung nach Trennung der Eltern im Sozial- und Steuerrecht ist zu begrüßen. Sie wurde im Übrigen unter anderem auch in der Empfehlung ‚Gemeinsam getrennt erziehen‘ vom Wissenschaftlichen Bereit für Familienfragen beim Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend so gefordert.“

Bundesministerin Spiegel möchte Kinderarmut durch die Einführung einer ‚Kindergrundsicherung‘ bekämpfen. Welche Herausforderungen sehen Sie in diesen Plänen?

„Die Einführung einer Kindergrundsicherung als Mittel zur Beseitigung von Kinderarmut wird sicher das zentrale familienpolitische Projekt sein. Daneben ist mit der Kindergrundsicherung auch die Vereinfachung des Antragsprozesses beabsichtigt. Kindergeld, Leistungen der Sozialhilfe oder Grundsicherung, aus SGB II/XII, für Kinder, Teile des Bildungs- und Teilhabepakets sowie Kinderzuschlag sollen zusammengefasst werden und einkommensunabhängig nur als Garantiebetrag oder nach dem Elterneinkommen gestaffelt erhöht gezahlt werden. Der bisherige Kinderfreibetrag ist im Koalitionsvertrag nicht erwähnt, da aber der Garantiebetrag den verfassungsrechtlichen Vorgaben nach Freistellung des kindlichen Existenzminimums bei der Besteuerung des Elterneinkommens entsprechen soll, ist davon auszugehen, dass er abgeschafft werden soll.
Wenngleich die Vermeidung von Kinderarmut ein zentrales familienpolitisches Ziel ist und sein sollte, wirft die Einführung einer Kindergrundsicherung eine Reihe von Fragen auf: Wo bleiben die bisher beim Kinderzuschlag vorhandenen Anreize für die Eltern selbst Geld zu erwirtschaften – die sogenannte ‚Voraussetzung eines Mindesteinkommensbetrags‘? Kann verhindert werden, dass das Arbeitsangebot von Eltern, die den vollen Betrag erhalten, sinkt (oder angesichts der volkswirtschaftlichen Herausforderung der nächsten Jahre zumindest nicht steigt)? Ist es gerecht, dass Eltern, die gegebenenfalls unter größten Anstrengungen Familie und Erwerbsarbeit miteinander verbinden und den Unterhalt ihrer Familie selbst erwirtschaften, nur mit dem Äquivalent der steuerlichen Freistellung des kindlichen Existenzminimums abgefunden werden? Und schließlich: Kann eine erhöhte monetäre Leistung Kinder- und Familienarmut nachhaltig verhindern oder bedarf es dafür nicht einer systematischen Verknüpfung von Familien- und Arbeitsmarktpolitik?
Die empirische Evidenz aller Armutsuntersuchungen weist jedenfalls darauf hin, dass Ursache von Familienarmut in der Regel eine nicht vorhandene oder zu geringe Erwerbsarbeit der Eltern ist.“

Wo liegen Ihrer Meinung nach die Chancen der politischen Vielgestaltigkeit im neuen Regierungsbündnis?

„Das Bündnis bietet die Möglichkeit tatsächlich alle Familien im Fokus zu haben, also zum Beispiel nicht nur diejenigen, die in Armut und ohne Erwerbstätigkeit leben, sondern auch diejenigen, die unter teilweise Kräfte zehrenden Bedingungen Familienarbeit und Erwerbstätigkeit miteinander verbinden, die Familien der Mittelschicht. Diese Familiengruppe ist schon in den letzten Jahren ein wenig aus dem Blickfeld geraten. Im Koalitionsvertrag bekommt sie leider auch nicht die notwendige Beachtung.
Dennoch: In der konsequenten Fortsetzung der hohen Betonung von Bildungsinvestitionen, des Betreuungsausbaus und der Unterstützung egalitärer Arbeitsteilungsmuster trifft die Politik auf die Bedürfnisse vieler Familien.“

Ihr Fazit zum Koalitionsvertrag? Wo würden Sie empfehlen, nachzubessern?

„Die skizzierte Familienpolitik ist in vielen Bereichen eine konsequente Fortführung der Familienpolitik der letzten ca. 20 Jahre, was eindeutig zu begrüßen ist. Neue Impulse werden im Familienrecht gesetzt – etwa im Hinblick auf Pflege-, Trennungs-, gleichgeschlechtliche Elternschaft sowie soziale Elternschaft. Hier wird die Frage der Umsetzung in der sozialen Realität eine spannende sein.
An vielen Stellen sind die Formulierungen des Vertrages noch vage, da darf man bei der Umsetzung gespannt sein. Darüber hinaus fände ich eine systematische Verbindung von Familien,- Sozial- und Arbeitsmarktpolitik notwendig, um Familienarmut wirklich nachhaltig zu bekämpfen.“

Über das FFP

Das Forschungszentrum Familienbewusste Personalpolitik (FFP) ist ein wissenschaftliches Kompetenzzentrum für Familienpolitik und familienbewusste Personalpolitik, das im Jahr 2005 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster gegründet wurde. An seinen Standorten in Münster, Berlin und Bochum setzt sich das Team des FFP mit Fragestellungen an der Schnittstelle von Familien-, Wirtschafts- und Sozialpolitik auseinander und erforscht unter anderem die Potenziale und Effekte einer familienbewussten Personalpolitik.

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