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Lilian Güntsche-Hilgendag: Marienkäfermomente für mehr Achtsamkeit im Berufs- und Familienalltag

Dipl. Medienök. Lilian Güntsche-Hilgendag ist Autorin und Coach für Achtsamkeit, Agilität, Life Design und Transformation. Als Mama, Gründerin von THE DIGNIFIED SELF® und mit GÜNTSCHE CONCEPTS international tätige Beraterin und Speakerin weiß sie, gelassen mit Veränderungen umzugehen. Lilian setzt sich für Vereinbarkeit und für mehr Achtsamkeit im Berufs- und Familienalltag ein. Mit SHE works! sprach sie über ihren Lebensweg von einem Workaholic zu einem „mindful workaholic“ und warum Kinder die besten Achtsamkeitstrainer sind.

Frau Güntsche-Hilgendag, bevor Sie sich selbstständig gemacht haben, war für Sie eine 80-Stunden-Woche keine Seltenheit. Warum der Cut und der Weg in die Selbstständigkeit?

Mit 29 Jahren hatte ich eine Führungsposition in einer IT-fokussierten Unternehmensberatung. Ich war eine der wenigen Frauen in einer männerdominierten Branche und hatte vermutlich auch deshalb das Gefühl, immer noch ein bisschen mehr einbringen zu müssen. Ich machte mir konstant Druck und schaltete so gut wie nie ab. Always-On – Always-Connected! Zudem war ich nebenberuflich als Sängerin und Klingeltonproduzentin tätig und verbrachte die Abende oft im Studio oder auf der Bühne.

Eine 80-Stunden-Woche war keine Seltenheit, bis meine Ärztin mir sagte, ich würde keine 35 Jahre alt werden, wenn ich so weitermache. Das war mein Weckruf: Ich entdeckte die Achtsamkeitspraxis, änderte meinen Lebensstil und wagte mit „Güntsche Concepts“ den Sprung in die Selbständigkeit. Hierbei achtete ich von Anfang an darauf, mir immer wieder Auszeiten zu nehmen und machte parallel viel Musik, was mich erfüllte.

Wie hat sich Ihr Leben seitdem verändert?

Heute bin ich dank der Achtsamkeit noch am Leben und führe bewusst einen ausgeglicheneren Lebensstil. Ich bin ein „mindful workaholic“ mit vielen Interessen.

Nachdem ich mich selbständig gemacht hatte, zog ich wieder in meine Heimatstadt Berlin zu meiner Familie und verbrachte viel Zeit mit meiner Mutter. Für diese Zeit bin ich sehr dankbar, denn leider starb sie ein paar Jahre später. Der Verlust meiner Mutter war ein weiterer noch härterer Weckruf und verstärkte meinen Fokus auf den Moment und die Wertschätzung des Lebens. Meine Mutter sagte immer: „Wir sind alle nur Gast auf dieser Erde. Keiner weiß, wie lange uns Zeit geschenkt wird. Daher sollten wir sie nutzen. Jeden Tag!“.

In meiner 13-jährigen Selbstständigkeit als Digital-Beraterin und Agile Coach habe ich mich weitergebildet und bin mittlerweile zweifache Buchautorin, Coach und Speakerin rund um die Themen Mindful Agile Work, Well-Being, achtsames digitales Arbeiten und mentale Gesundheit.

Als Mutter eines 5-jährigen Sohnes und Mindful Parenting Coach engagiere ich mich darüber hinaus für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie und setze mich mit meinem Buch und dem begleitenden MARIENKÄFERMOMENTE®-Podcast für mehr Achtsamkeit für Eltern und für mentale Gesundheit im (beruflichen) Familienalltag ein. Zudem mache ich mich für mehr Achtsamkeit in der Wirtschaft und Gesellschaft stark, indem ich Achtsamkeits- und Wellbeing-Impulse in meine Beratungsmandate integriere.

Eines ihrer Kernthemen ist „Achtsamkeit“. Was steckt für Sie hinter diesem Buzzword?

Achtsamkeit ist die Fähigkeit im Jetzt zu leben. Den gegenwärtigen Moment wahrzunehmen, die kleinen Dinge zu sehen, in sich hineinzufühlen, dankbar zu sein, das Bewusstsein zu schärfen mit allen fünf Sinnen und urteilsfrei zu sein. Es geht auch viel um Selbstfürsorge.

Kreativität, Resilienz, ein gesunder Umgang mit Stress, Anpassungsfähigkeit und Empathie sind zudem wichtige Fähigkeiten in der Arbeitswelt von morgen und werden alle durch regelmäßige Achtsamkeitspraxis kultiviert. Es entstehen derzeit einige Mental-Health-Initiativen in Unternehmen, sowie auch an Universitäten oder Kindergärten und Schulen. In manchen Ländern ist Achtsamkeit bereits ein Pflichtfach an Schulen geworden. Ich denke, es ist eine Frage der Zeit, bis das endlich auch in Deutschland der Fall ist.

Sie sind nicht nur Digital-Expertin, Projektleiterin und Agile Coach, sondern auch Autorin. Ihr erstes Buch trägt den Titel „Achtsamkeit in digitalen Zeiten“. Wie kann Achtsamkeit in Zeiten von ständiger Erreichbarkeit über verschiedene Kanäle funktionieren?

In den letzten 15 Jahren war ich in vielen globalen digitalen Transformationsprojekten aktiv und musste öfter feststellen, dass im Rahmen großer technologischer Veränderungen die Menschen etwas „vergessen“ werden. Daher initiierte ich 2015 THE DIGNIFIED SELF® mit der Mission, den Menschen in der digitalen Welt wieder an die erste Stelle zu setzen und einen gesunden Umgang mit Technologie zu fördern (mehr unter thedignifiedself.com).

Als Mitgestalterin des „Always-On“ sehe ich es als meine Pflicht, mich auch dafür einzusetzen, die Grenzen dieses Konzepts mitzudefinieren. Eine Welt, in der wir konstant digital verfügbar sind – zumindest in der Theorie. Es ist die Reise „von Always-On zu Always-Omm“, wie ich es gerne nenne. Soll heißen: Digital auf der Überholspur zu bleiben, aber dennoch gut mit sich selbst umzugehen. Die Ruhe in der Beschleunigung finden – das war auch der Untertitel meines ersten Buches, „Achtsamkeit in digitalen Zeiten“.

Heute unterstütze ich Unternehmen und Einzelpersonen dabei, Achtsamkeit und Agilität bei der Arbeit zu entwickeln („Mindful Work“), unter anderem durch meinen Trainingsansatz MINDFUL AGILITY®, welcher Grundgedanken der Achtsamkeit mit agilen Methoden verbindet. Es gibt keine Universallösung, aber der offene Austausch darüber ist entscheidend, um ein gesundes „Digital Well-Being“, eine digitale Achtsamkeit, zu etablieren.

Ihr zweites Buch ist unter dem Titel „Gelassen und agil dank Kindern“ erschienen. Sie sind selbst Mutter – wie sehr spiegelt das Buch Ihre Erfahrungen wider?

In meinem zweiten Buch „Gelassen und agil dank Kindern“ dreht sich alles um mentale Gesundheit und Achtsamkeit für Eltern mit dem Ziel, mehr Gelassenheit und Fokus im (beruflichen) Familienalltag zu finden und eine gelingende Vereinbarkeit zu fördern.

Ich teile eigene Erfahrungen und Anekdoten aus dem Familienalltag, kombiniert mit den 7 Grundhaltungen der Achtsamkeit nach Jon Kabat-Zinn und agilen Werten aus dem Veränderungsmanagements. Zudem sind viele Übungen, Impulse und Meditationen aus dem „Mindful Parenting“ Coaching, Agile Coaching und Life Design Coaching eingeflossen.

Kinder zu haben, bedeutet konstante Veränderung und die Transformation ins Elternleben kann eine enorme Herausforderung sein, die Achtsamkeit, Anpassungsfähigkeit und Resilienz erfordert. Denn wird ein Kind geboren, werden auch wir als Eltern neu geboren. Kinder sind begeisterungsfähig und kreativ und sie sehen die Welt noch urteilsfreier und ungefilterter – voller Möglichkeiten. Das sind alles wertvolle Eigenschaften, die wir von Kindern lernen können, um Veränderungen zu meistern.

Für manch einen könnte „gelassen“ und „Kinder“ eher im Kontrast stehen. Warum passt beides aber dennoch so gut zusammen?

Ich glaube daran, dass wir „dank“ Kindern lernen können, gelassener und agiler zu werden, indem sie unsere Pläne manchmal über Bord werfen und uns die Welt stattdessen aus ihren Kinderaugen zeigen, sofern wir sie auch lassen.

Ich habe gelernt, Gelassenheit verstärkt mit Kindern zu verbinden: Wenn ich mit meinem Sohn zusammen bin, versuche ich, die Welt mehr aus Kinderaugen zu sehen und diese sogenannten „Marienkäfermomente“, wie ich sie nenne, in denen wir z. B. einen Stein anschauen oder Marienkäferpunkte zählen, bewusst zu genießen. Auch wenn es an stressigeren Tagen mal schwerer fällt, im „Jetzt“ zu bleiben, hilft mir die Achtsamkeit, mich neu auszurichten und den Moment zu schätzen. Durch meinen Sohn habe ich viel über Gelassenheit gelernt, besonders in den einfachen Momenten des Zusammenseins.

Sie sagen: „Kinder sind die besten Achtsamkeitstrainer*innen – wenn wir sie nur lassen.“. Warum lehren uns besonders Kinder Achtsamkeit?

Wie ich im ersten Kapitel meines neuen Buches „Gelassen und agil dank Kindern“ auch schreibe, fragte ich vor vielen Jahren mal meine Mutter, warum wir Eltern werden sollten. Sie antwortete: „Weil es auf einmal wieder wichtig ist, wie viele Punkte ein Marienkäfer hat und welche Farben der Schmetterling. Dank Kindern bekommen wir die einzigartige Chance, unser ganzes Leben noch einmal zu erleben – aus Kinderaugen. Das ist ein großes Geschenk.“

Diese Worte habe ich nie vergessen und erst richtig verstanden, als ich selbst Mama wurde. Kinder haben sehr viel mit der Achtsamkeit zu tun – dem Leben im Jetzt. Als Erwachsene rennen wir oft von A nach B, führen To-Do-Listen und verfolgen Pläne. Kinder erinnern uns daran, auch mal wieder stehen zu bleiben. Sie nehmen die Welt bewusster wahr, mit allen Details und entdecken sie mit kindlicher Freude, einem Urvertrauen, Löwenmut und echter Begeisterung.

Das bewusste Beobachten des Kindes ist wie „Schule für das Herz“, wie der renommierte Kinderarzt und Autor Dr. Klaus-Dieter Früchtenicht so schön in unserem Interview im Rahmen meines Buches beschreibt. Kinder haben viele der achtsamen Grundhaltungen, die ich in meinem Buch auf den Elternalltag anwende, intuitiv in sich oder kultivieren sie in uns.

Als Erwachsene fallen wir schnell in Gewohnheiten und vergessen stattdessen, Dinge zu entdecken und wahrzunehmen. Es hält uns jedoch mental fit, wenn wir ab und zu mal etwas Neues tun oder versuchen, Dinge mehr so wahrzunehmen, als würden wir sie zum ersten Mal sehen, hören, schmecken, riechen oder fühlen (eine Achtsamkeit durch die Aktivierung unserer Sinne).

Aber auch im Bereich der achtsamen Grundhaltung des Vertrauens können wir uns viel von Kindern abgucken. Sie sind mutig und probieren Dinge einfach aus. Das kann mitreißend sein. Das sind diese „Marienkäfermomente“ – diese unbezahlbaren Momente, die uns ein Gefühl von Lebendigkeit im Jetzt geben und im Herzen wachsen lassen. Schule für das Herz eben!

Achtsamkeit in der Wirtschaft – kann das funktionieren? Und wenn ja, unter welchen Prämissen?

Die Bedeutung von Achtsamkeit in der Wirtschaft hat sich seit der Veröffentlichung meines ersten Buches „Achtsamkeit in digitalen Zeiten“ im Jahr 2016 stark gewandelt. Während ich damals zu den Pionieren gehörte, die Achtsamkeit in Unternehmenskontexten einführten, ist sie mittlerweile weiter verbreitet, insbesondere durch die Folgen der Pandemie.

Seitdem wir Home-Office und mobiles Arbeiten stark etabliert haben, sind die Grenzen zwischen Privat- und Berufsleben verschwommen und die Nachfrage nach Achtsamkeitspraktiken und mentaler Gesundheit hat sich somit erhöht. Viele Menschen fühlen sich kontinuierlich gestresst. Es braucht daher unbedingt gesunde digitale, achtsame Grenzen für Always-On, Empathie, Wertschätzung, eine mentale Gesundheitskultur, offene Kommunikation sowie flexible und kreative Arbeitsmodelle, die Beruf und Familie ermöglichen – auch für Frauen in Führungspositionen.

Hierbei hilft es, klare Erwartungshaltungen und Bedürfnisse zu formulieren, die Selbstwirksamkeit im Tun zu ermöglichen (Sinnhaftigkeit), Wandel in kleinen bewussten, agilen Schritten zu fördern, mentale Gesundheit zu fördern durch Achtsamkeitspraxis, und regelmäßige Retrospektiven durchzuführen, um immer wieder zu prüfen, was gut lief und was gemeinsam besser oder anders gemacht werden könnte. Es erfordert auch den Mut, Neues auszuprobieren und den Anfängergeist, eine weitere achtsame Grundhaltung, zu aktivieren.

Im agilen Arbeiten gehen wir Dinge in kleinen Schritten bzw. Iterationen an und schärfen so den Fokus für die Prioritäten der nächsten zwei bis drei Wochen. Dies macht es einfacher, eins nach dem anderen zu tun und produktiver zu sein. Daher empfehle immer von Multi-tasking zu Single-tasking zurückzukehren: Das führt eher zum Erfolg und zu nachhaltiger Zufriedenheit.

Was müssen Arbeitgeber und Arbeitnehmer dafür tun, um in den Alltag mehr Achtsamkeit zu integrieren?

Das können kleine Dinge sein, wie z. B.:

  • Fokuszeiten in den Kalendern zu blocken
  • Keine Meetings in der Mittagszeit
  • Bildschirmfreie Zeiten in Terminen (außer der, der präsentiert/protokolliert)
  • Walk and Talks an der frischen Luft statt endlose indoor Telkos
  • Eine bewusste Nutzung und Fokussierung der technologischen Tools & Kanäle
  • Fokus ermöglichen mit klaren Aufgaben und Zielen für die nächsten 2 Wochen
    Einstellungen der Technologie nutzen, wie zum Beispiel Meetings mit MS Teams nur standardmäßig auf 50 Minuten einstellen, statt auf 60.

Persönlich bin ich ein Fan der +10-Regel: Hierbei blocken wir uns einfach immer 10 Minuten mehr als es eigentlich geplant ist. Erhalten wir z. B. eine Meeting Einladung von 9-10 Uhr, blocken wir unseren Kalender bis 10:10 Uhr. So können wir sicherstellen, dass zwischendurch eine kleine Pause zum Durchatmen, sich zu dehnen und gedanklich neu auszurichten, bleibt. Das ist gesund und steigert gleichzeitig die Produktivität. Da jedoch jedes Set-Up, jede Tool-Landschaft und jede Unternehmenskultur anders ist, ist es immer auch eine Beratungsleistung und Analyse, um zu schauen, was für die konkreten Herausforderungen und jeweilige Ausgangssituation am besten passen kann.

Abschließend: Würden Sie unseren Leser*innen vielleicht ein paar Tipps geben, wie sie sofort nach lesen des Interviews mehr Achtsamkeit in ihr Leben bringen können – und dann hoffentlich direkt Ihr Buch bestellen.

Momente des Seins und der Gelassenheit statt nur To-Dos in den Alltag integrieren und dafür bewusst Raum schaffen. Hierfür empfehle ich allen Menschen, die gerne Checklisten führen, statt nur einer To-Do-Liste, künftig auch eine „To-Be-Liste“ anzufertigen, mit Dingen, die uns selbst guttun, weniger Tun, mehr Sein fokussiert sind und unsere fünf Sinne aktivieren. Wir sind schließlich keine Human-Doings, sondern Human-Beings!

Bewusste kleine Pausen in den Arbeitsalltag integrieren durch die +10 Regel, für eine kurze Atemübung wie beispielsweise die „3-Minuten-Atempause“, die wir im „Mindful Parenting-Ansatz“ vermitteln. Ist als angeleitete Meditation in meinem Buch zu finden.

Die Welt mehr aus Kinderaugen sehen und mal wieder Marienkäferpunkte zählen! Mehr entdecken, spielen, experimentieren, fragen. Den Forscher-bzw. Anfängergeist wecken und mal etwas Neues ausprobieren. Das können kleine Dinge sein, wie z. B. einen anderen Weg nach Hause oder zur Arbeit zu gehen. Oder du stellst dir vor, du bist vom Mars und soeben das erste Mal auf der Erde gelandet. Wie würdest du die Welt wahrnehmen?

Zudem möchte ich den begleitenden MARIENKÄFERMOMENTE® Podcast (marienkäfermomente.jetzt) empfehlen. Da habe ich immer sehr inspirierende Gäste im Gespräch und es gibt geballte Inspiration rund um die Themen Achtsamkeit für Eltern, Mindset, mentale Gesundheit, Stress-Management und Vereinbarkeit aus Beruf und Familie. Etwas in dem die meisten meiner Podcast-Gäste gleicher Meinung sind, ist: Schluss mit dem Perfektionsdrang! Es ist okay und wichtig, wenn mal alles zu viel wird, einen Gang zurückzuschalten und Hilfe anzunehmen. Wir sollten uns nicht konstant Druck machen, alles alleine schaffen zu müssen. Auch ein Computer oder Smartphone braucht mal einen Neustart, etwas Strom, eine kurze Pause oder mal ein Update. Warum sollten wir uns als Menschen nicht das gleiche Recht einräumen, um auch den eigenen Akku aufzuladen?

Vielen Dank!

Mehr Informationen und begleitender Podcast unter: www.marienkaefermomente.jetzt

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